Andacht September 2022
Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit.
Sirach 1, 10
„Vieles und Großes ist uns gegeben durch das Gesetz und die Propheten und die Schriften, die sich daran anschließen; daher muss man Israel wegen solcher Lehre und Weisheit mit Recht loben. … So hat mein Großvater Jesus mit besonderem Fleiß das Gesetz, die Propheten und die anderen Bücher unserer Väter gelesen, sich darin ein reiches Wissen erworben und es unternommen, auch etwas von rechtem und weisem Leben zu schreiben“ (Jesus Sirach, Vorrede 1f). Das Buch des Jesus Sirach entstand etwa 180 v. Chr. in Jerusalem und ist geprägt von einer tiefen Frömmigkeit und profunden Weisheit. Deshalb hat die katholische Bibel „Das Buch Jesus Sirach“ in den Kanon aufgenommen (in die Abteilung „Die Bücher der Lehrweisheit und die Psalmen“); die protestantische Bibel ordnet das Buch den Apokryphen zu, „das sind Bücher, so der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind“ (Martin Luther).
In der Zeit, in der Jesus Sirach sein Buch schrieb und auch noch als sein Enkel es etwa 120 v. Chr. ins Griechische übersetzte, waren die Menschen der Überzeugung, dass Weisheit im Lauf der Lebensjahre sich entwickelt, wenn man sich genügend darum bemüht, und dass sie das höchsten Lebensziel sei. In den Evangelien wird Weisheit lediglich als menschliche Tugend verstanden, die bei Jesus schon früh in seinem Leben entwickelt war (Lukas 2, 40).
„Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit“ stellt unser Monatsspruch fest. Er erinnert damit an das oberste, das erste Gebot, das Mose vom himmlischen Vater erhielt, damit er es Israel einpräge, und das der Pharisäer im Gespräch mit Jesus Christus so zusammenfasst: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lukas 10, 27 nach 5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). Darum bemühen auch wir Christen uns darum, Gott zu lieben, darum, die Liebe Jesu zu erwidern.
Aber bei nüchterner Betrachtung müssen wir gestehen: wir sind in erster Linie nicht damit beschäftigt, Jesus zu lieben, sondern ihn zu bitten, uns zu helfen z.B. gegen eine drohende Krankheit, den Heiligen Geist anzuflehen, uns bei der Abfassung der Andacht, der Predigt oder des Gottesdienstkonzepts beizustehen, oder den himmlischen Vater um seinen Segen zu bitten. Wir sind stets die Bittenden, die Nehmenden, selten die Gebenden. Und wenn wir aufrichtig unser Verhältnis zu Gott an den Regeln messen, die der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther, Kapitel 13, aufgezählt hat, dann wird man wohl kaum noch behaupten können, wir liebten den himmlischen Vater, so wie Paulus die Liebe beschreibt. Dass wir den Anspruch erheben, Gott zu lieben, ist noch kein Beweis für das Gegenteil. „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht“ (Vers 4a), schreibt der Apostel Paulus zum Beispiel. Der himmlische Vater beweist das ständig, weil er meist sehr lange warten muss, ehe wir unser Verhalten ändern. Und wir? Wenn wir heute um Genesung bitten, fangen wir morgen mit dem Quengeln an, „warum“ unserer Bitte noch nicht entsprochen wurde.
Nein, nüchtern betrachtet können wir nur demütig und dankbar feststellen, dass es stets darum geht, dass der himmlische Vater uns ohne Einschränkung auch dann liebt und uns wohlwill, wenn wir uns wie unerzogene Kinder verhalten. Vor allem fehlt es uns an dem uneingeschränkten, unbegrenzten Vertrauen in unseren himmlischen Vater, das Jesus uns vorgelebt hat mit seinem Leben, so wie es die Evangelien schildern. Ganz deutlich wird das in Gethsemane: Jesus „kniete nieder, betete und sprach: Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ (Lukas 22, 41f). Der Vater hat Jesu Vertrauen gerechtfertigt.
Wir können also nur dankbar sein unserem himmlischen Vater und uns bemühen, ihn nicht zu sehr zu enttäuschen. Oder wie es Jesus Sirach formuliert hat: „Nun danket alle Gott, der große Dinge tut an allen Enden, der unsre Tage erhöht vom Mutterleib an und an uns handelt nach seiner Barmherzigkeit. Er gebe uns ein fröhliches Herz“ (Jesus Sirach 50, 24f; Luther 1984; vgl. GL 246 / EG 321).
Ulrich Lorenz, Berlin